Eine wahre Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, nacherzählt von Christine Dönnhoff. Dieser Text erschien zuerst im Mai 2011 in der Zeitschrift „Die Krake“, die von den Polytanten herausgegeben wird.
Kindheit und Jugend
Victoria Woodhull wurde am 23. September 1838, als siebtes Kind von Annie und Buck Claflin, in Homer, Ohio, USA geboren. Ihre Schwester Tennessee kam 1846 als zehntes und letztes Kind zur Welt.
In eine ziemlich anstrengende Welt. Der Vater war Trinker, Betrüger, und hemmungslos in seinen Mitteln zu Geld und Vergnügen zu kommen. Die Mutter von ausgesprochen wechselvollem Gemüt. Sie neigte sowohl zu Gewalt, als auch zu Liebesausbrüchen. Und war stark von heiligen und nicht so heiligen Geistern beseelt. Verfiel bei Gottesdiensten schon mal in Trance und hatte religiöse Visionen. Womit sie zeitweise die Familie ernährte, indem sie sich als spiritistische Beraterin anbot. Der Gemahl machte dann die in den Gesprächen gewonnenen Einsichten durch Erpressung zu Geld. Was zur Folge hatte, dass die Familie ziemlich oft umzog. Sobald ihre Machenschaften aufflogen, wurden sie stets vertrieben.

Victoria und Tennessee erbten die Gabe der Seherei, verfielen, wie ihre Mutter, leicht in Trance und kannten außerkörperliche Erfahrungen. Das machte sich der Vater zu nutze. Da Kinder als Medium damals sehr in Mode waren, füllten sie auf diese Weise seine Kasse.
Doch für Victoria war das eine ernste Sache, und ihr waren die Betrügereien zuwider. Halfen ihr doch die Geisterwelt und das Verlassen ihres Körpers die Gewalt und den Missbrauch zu überleben. Sie begann sich gegen den Vater aufzulehnen. Mehrfach versuchte sie, der Familie zu entkommen, letztlich erfolglos. Was auch immer die Familienmitglieder aneinander band, schien stärker zu sein. Einmal kehrte Victoria zurück, von der Vision ihrer Schwester gerufen, andere Male holte die Familie sie ein. Immer wieder nahm sie die Bande bei sich auf.
Die beliebte, aber letztlich schlechteste Methode, wählte sie fünfzehnjährig und heiratete 1853 den einundzwanzigjährigen Arzt Canning Woodhull. Der Mann war Alkoholiker und wie sich bald herausstellte, weder willens noch fähig die Familie zu ernähren. Victoria bekam 1854 ihr erstes Kind, Byron, der an einer schweren geistigen Behinderung litt, nie sprechen lernte, und zeitlebens von ihr betreut wurde. Hocherfreut über die Geburt ihrer Tochter Zulu Maud am 18. April 1861, ließ sie sich kurz darauf scheiden. Dieses ausgesprochene Wunschkind würde ihr für den Rest ihres Lebens treu zur Seite stehen.
Während Victorias Abwesenheit musste die 14 jährige Tennessee den Job als Ernährerin des Claflin-Clans übernehmen. Und sie wahrsagte, wunderheilte, verkaufte mit ihrer Mutter dubiose und mitunter auch gesundheitsschädliche Elixiere und stellte die Verbindung zu allen Verstorbenen her. Angeleitet und mit Informationen ausgestattet von ihrem Vater. Wenn das Geschäft schlecht lief, war er um Ideen nicht verlegen und bot seine Töchter in Zeitungsannoncen für „Lehrstunden im Kult der Liebe“ an.
Spiritismus

Victoria entwickelte als Medium und Spiritistische Beraterin beträchtliche Fähigkeiten. Auf Grund ihrer eigenen Geschichte konnte sie sich bestens in andere einfühlen und verstand und kannte die Nöte der Frauen, die Rat bei ihr suchten. Ohne Hemmungen sprach sie über all das, was die Frauen bedrückte. Vergewaltigung, Verhütung, schlechten Sex, Abtreibung und die Notwendigkeit sich zu prostituieren, um zu überleben. Sie beherrschte die hohe Kunst des Zuhörens. In ihrer Gegenwart fühlten sich die Menschen angenommen, lebendig und gewannen neue Zuversicht. Sie selbst wurde als bescheiden und von ausgesprochen angenehmem Wesen beschrieben. Diejenigen, die sie kannten, lobten sie in den höchsten Tönen.
Als Therapieform wählte sie den damals aufkommenden „Messmerismus“; eine Heilmethode, bei der durch Handbewegungen die energetischen Blockaden im Körper gelöst werden sollten. Für sie war das aufgrund der Energieströme, die sie durch ihre Hände fließen spürte nahe liegend. Viele wussten von der magnetisierenden Wirkung zu berichten, die sie durchströmte, wenn sie von Victoria bei der Begrüßung an beiden Händen gefasst wurden. Das war ihre Art Kontakt herzustellen, sich zu verbinden und ein Gespür für ihr Gegenüber zu entwickeln.
Trotz ihrer unzweifelhaften Begabung gelang es ihr nicht immer, sich und die Familie damit über Wasser zu halten. Sie musste sich mitunter als Cigar Girl und als Schauspielerin durchschlagen. Prostitution mag auch dabei gewesen sein. Gehörte sexuelle Belästigung doch wie selbstverständlich zu diesen Berufen. In dieser Zeit begegnete sie Josie Mansfield, die ebenfalls im „Metier“ zuhause war. Sie schlossen Freundinnenschaft. Und werden sich später noch einmal sehr gewinnbringend begegnen.
James Blood

Eines Tages schneite ihr James Blood in die Praxis. Ein 31 jähriger, angesehener und gebildeter Mann, städtischer Untersuchungsrichter und Präsident der örtlichen Eisenbahngesellschaft. Durch den Bürgerkrieg traumatisiert, durchlebte er eine schwere persönliche Krise. Er versuchte den Tod vieler Kameraden zu verarbeiten, indem er sich dem Spiritismus zuwandte. Eine damals häufig angewandte Praxis. Dadurch veränderte sich sein Weltbild radikal und er begann mit den reformerischen Kräften der damaligen Gesellschaft zu sympathisieren. Da gab es zum einen die gemäßigte Frauenrechts- und Anti-Sklaverei- Bewegung. Zum anderen eine radikalere Minderheit, die nicht nur eine rechtliche Gleichstellung aller Menschen anstrebte, sondern eine grundlegende Reform der Sitten. Die Free Lovers. – AnhängerInnen der freien Liebe. Sie beriefen sich auf Ideen der FrühsozialistInnen aus Europa, wo bereits in den 30 Jahren Kommunen entstanden waren, die neue Modelle des Zusammenlebens von Männern und Frauen entwarfen.

Zu ihnen fühlte sich Blood hingezogen. Dafür fand er bei seiner Familie und seinem gesellschaftlichen Umfeld wenig Verständnis. So kam es, dass er sich sofort in Victoria verliebte. Sie schien ihm als die Verkörperung seiner Theorien. Wie es häufig bei der Begegnung von Ober- und Unterschicht geschieht, schätzte er ihren offenen Umgang mit Sex und das Fehlen der sittlichen Zimperlichkeit, das Frauen aus der Mittel- und Oberschicht antrainiert wurde. Er ließ sich 1866 scheiden und brannte mit der 28-jährigen Victoria durch. Und zog die nächsten zwei Jahre mit ihr und Tennessee, die ebenfalls von zuhause geflohen war durchs Land. James Blood wiederum eröffnete den Schwestern die Welt der Bildung, machte sie mit den Wirtschaftstheorien, sozialen Utopien, und sozialistischen Ideen der Zeit bekannt. Victoria verknüpfte diese Theorien mit den Tausenden von Geschichten des Elends, die sie gehört hatte und füllte sie mit ganz eigenem Leben. Sie waren eine recht erfolgreiche Arbeitsgemeinschaft, bis Victoria von ihrem Lieblingsgeist Demosthenes 1868 nach New York in die Great Jones Street Nr. 17 geschickt wurde.
New York

In New York angekommen, boten sie ihre spirituelle und gesundheitliche Beratung den Prostituierten in den zahllosen Bordellen an. Victoria erneuerte ihre Freundinnenschaft mit Josie Mansfield, die inzwischen die Kurtisane von Jim Fisk, einem schwerreichen Industriellen geworden war. Eines der beliebtesten Häuser bei den Gentlemen war das Bordell von Annie Wood. Es bot
eine diskrete und entspannte Atmosphäre und es war damals nichts ungewöhnliches, dass die Herren dort ihre Börsen- und sonstigen Geschäfte besprachen. Es lag völlig außerhalb ihrer Vorstellungskraft, dass die Frauen, noch dazu Prostituierte, den Gesprächen mit Interesse lauschten und mit den Informationen umzugehen wussten. Doch Annie Wood erstellte nicht nur eine Liste ihrer Kundschaft, sondern verkaufte höchst wahrscheinlich auch spezielle Informationen. Bei ihr gingen Victoria und Tennessee ein und aus.

Doch kaum fand die restliche Familie heraus, wo sie steckten, kamen sie nach. Ihr Vater arrangierte aufgrund seiner Erkundigungen ein Treffen mit Cornelius Vanderbilt, einem der reichsten Männer Amerikas. Exzentrisch, geistergläubig, von Alpträumen geplagt, erhofft er sich von Victoria Heilung und Kontakt zu seiner verstorbenen Mutter. Tennessee übernahm den Part seiner Geliebten. Aber Victoria konnte noch mehr: sie sagte ihm die Börsenkurse voraus. Wobei in diesem Fall in Zweifel gezogen werden darf, dass die Einflüsterungen von Geistern stammten und nicht von ihren gut informierten Freundinnen in den Bordellen. Ein besonders geglückter Coup ist sogar ausführlich dokumentiert – die wüsten Goldspekulationen, die am 14.9.1869 im „schwarzen Freitag“ und in einem spektakulären Börsencrash endeten. Von den Manipulationen am Goldmarkt wusste sie bestimmt von Josie Mansfield , die die Mätresse eines der Drahtzieher der Hausse war.
Und weil sie sich an Vanderbilts Gewinn beteiligen ließen, waren sie 1870 reiche Frauen. Mit dem erworbenen Wissen und Geld eröffneten sie im Januar 1870 die Brokerfirma. Woodhull, Claflin & Co. Und das zu einer Zeit, in der es Frauen gar nicht gestattet war eigene Geldgeschäfte zu tätigen. Aber sie spazierten einfach mit James Blood, er war das Co der Firma, an die Börse und legten los. Sie waren natürlich eine Sensation und in den großen New Yorker Zeitungen wurde über sie berichtet. Zu diesem Zeitpunkt gingen sie noch als amüsante Kuriosität durch; selbst als sie sich die Haare schneiden ließen und in Jacketts auftraten. Auf Nachfragen gaben sie an, sie hätten nicht so viel Zeit zu vertrödeln für die tägliche aufwändige Toilette, die Frauen sonst abverlangt würde.
Politik

Aber der finanzielle Erfolg und gesellschaftliche Aufstieg genügten Victoria nicht. Sie wollte die Welt verändern und in der Politik eine Rolle spielen. Im April 1870 lernte sie den Freidenker und Sonderling Stephen Pearl Andrews kennen. Er galt als abgeschnappter Intellektueller, der unverständliche Bücher schrieb. 1851 hatte er unter dem Motto „Freie Liebe, Gemeinschaftlichkeit und Selbstbestimmung“ eine Kommune gegründet, mit der er allerdings scheiterte. Daraufhin rief er, unverdrossen, die Liga für Freie Liebe ins Leben.
Die AnhängerInnen der freien Liebe waren damals so unterschiedlich wie heute die Polybewegung: es gab Gemäßigte, Radikale und Experimentierfreudige. Zu letzteren sicher der protestantischer Geistliche John Humphrey Noyes (1811-1886) zu zählen ist. Er argumentierte folgendermaßen: „das zweite Kommen Christi liege bereits zurück, und deshalb sei es den wahren Gläubigen möglich sündenlos zu leben.“ Und gründete die Kommune Oneida, die zeitweise bis zu 306 Mitglieder stark war. Sie zeichnete sich durch eine sehr großzügige und eigenwillige Auslegung des Christentums aus. Eines der Ziele bestand in der Gleichberechtigung der Frauen. Die sexuelle Initiative ging zwar von den Männern aus, aber sie mussten diesen Wunsch einer der älteren Frauen vorbringen, die als Mittlerin fungierten. Damit sollte gewährleistet werden, dass die Frauen leichter nein sagen konnten. Dauerhafte Liebesbeziehungen waren verpönt. Schließlich sollte die Liebe der wahren Gläubigen allen zuteil werden.
Die gemäßigte Variante forderte nur die Ehe aus Neigung, andere machten sich für die serielle Monogamie und das Recht auf Scheidung stark. Die Radikalsten traten für einen vollkommenen Rückzug des Staates aus dem Privatleben ein.
Gemeinsam war ihnen die Hoffnung, in der freien Liebe eine Wunderwaffe gegen Prostitution, Doppelmoral und die Verderbtheit der Gesellschaft gefunden zu haben. Wenn die Liebe das einzige Band zwischen Männern und Frauen wäre, würden die Laster verschwinden und die Unterdrückung der Frauen ein Ende finden.

Andrews und Victoria waren voneinander begeistert und bildeten bald zusammen mit Tennessee und James Blood in Victorias Haus das Zentrum der Agitation für radikale Reformen. Nur wenig später erschien die erste Ausgabe ihrer Wochenzeitung:“ Woodhull and Claflin’s Weekly“ mit einer Auflage bis zu 20.000 Exemplaren. Ihre Themen umspannten alle Interessen der vier HerausgeberInnen, vom Spiritismus zu Tipps gegen die Alkoholsucht von Gatten, über Verhütung bis zu Enthüllungen über die korrupte Elite. Sie waren die ersten, die in Amerika das kommunistische Manifest von Marx veröffentlichten und druckten Reden von Feministinnen ab. Eine Witzecke fehlte ebenso wenig, wie Klatsch, Tratsch und Unterhaltung. Als sie im Juni 1872 Pleite gingen, konnten sie die Zeitung nur noch in gekürzter Fassung und sporadisch herausgeben bis 1876 die endgültig letzte Ausgabe erschien.
Das Außergewöhnliche an dieser Konstellation war, dass die Männer im Hintergrund agierten und Victoria das Sprachrohr des Zirkels wurde. Aber sie hatte auch das Zeug dazu. Sie konnte mit ihren Reden und ihrem Charisma die Massen mitreißen und Menschen für ihre Sache begeistern.
Die nächsten zwei Jahre fegte sie mit ihrer Bande wie ein Wirbelwind durch die New Yorker Gesellschaft und mischte alle relevanten reformerischen Bewegungen auf. Bei den Feministinnen machte sie sich mit dem Beharren auf der sozialen Frage und ihrem freizügigen Lebenswandel unbeliebt, bei den Sozialisten eggte sie mit der Frauenfrage und ihrer Spiritistischen Überzeugung an. Sie hatte es auf das Wohlergehen der ganzen Menschheit abgesehen. Deshalb waren ihr Interessenspolitiken zuwider, die sich auf die Befreiung von bestimmten Gruppen spezialisierten; ob es nun Arbeiter oder Frauen waren, die schlimmstenfalls miteinander konkurrierten.
Frauenbewegung
Zunächst suchte sie trotz dieser inhaltlichen Differenzen Kontakt zur Frauenbewegung. Diese war schon in einen konservativen und radikaleren Flügel gespalten. Aber beide kümmerten sich hauptsächlich um die Belange und Sorgen der bürgerlichen Frauen und legten großen Wert auf Respektabilität. Damit konnte Victoria nicht dienen. Sie weigerte sich, Wohlanständigkeit zu simulieren oder überhaupt irgendetwas zu vorzutäuschen und nahm kein Blatt vor den Mund. Vor allem ihre deutlichen Worte zu Ehe und Prostitution verschafften ihr eine Menge Feindinnen. So wurde sie vorerst mit erheblicher Skepsis beäugt. Als sie aber mit folgender Annonce auf sich aufmerksam machte, konnte sie nicht mehr ignoriert werden:
Im April 1870 war im Herald, einer großen New Yorker Zeitung, zu lesen:
“Während andere meines Geschlechts einen Kreuzzug gegen Gesetze führen, die die Frauen des Landes einschränken, habe ich meine persönliche Unabhängigkeit behauptet. Während andere für bessere Zeiten beteten, tat ich etwas dafür. Während andere für die Gleichheit von Frauen mit den Männern argumentierten, habe ich sie unter Beweis gestellt, indem ich eine erfolgreiche Geschäftsfrau wurde. Während andere zu zeigen versuchen, dass es keinen vernünftigen Grund gibt warum Frauen in sozialer und politischer Hinsicht als dem Mann untergeordnet behandelt werden sollten, habe ich unerschrocken die Arena der Politik und der Wirtschaft betreten, und die Rechte ausgeübt, die ich bereits besaß. Deshalb beanspruche ich für mich das Recht, für die vom Wahlrecht ausgeschlossenen Frauen des Landes zu sprechen, und, im festen Glauben, dass die landläufigen Vorurteile gegen Frauen im öffentlichen Leben bald verschwinden werden, kündige ich hiermit meine Kandidatur für die Präsidentschaft an.“

Sie war eine Frau der Tat, deshalb bedeutete politische Teilhabe für sie nicht in erster Linie den passiven Besitz von Rechten, sondern vor allem die aktive Übernahme von Verantwortung. Und sie war der Meinung, dass es nicht darum ginge, ob Frauen wählen dürften oder nicht, sondern darum, ob sie wählen wollten oder nicht. Davon abgesehen war ihr Glaube an das Wahlrecht als Allheilmittel gegen die Probleme von Frauen eher gering. Für sie waren brutale und verantwortungslose Ehemänner, zu wenig Geld und finanzielle Abhängigkeit größere Probleme als die Frage nach dem Wahlrecht.
Nach dieser Annonce nahmen Elisabeth Cady-Stanton und Susan B. Anthonie, die Galionsfiguren des radikalen Flügels der Frauenbewegung mit ihr Kontakt auf und luden sie trotz der nämlichen Vorbehalte ein, im Mai 1871 auf dem Frauenkongress zu sprechen.

Dadurch wurde sie so bekannt, dass sich ernsthaft mit ihr beschäftigt werden musste. Es formierten sich erste GegnerInnen, und wie es in Amerika bis heute sehr beliebt ist, wurde in der Vergangenheit herumgestochert. Und bei den Schwestern und deren Familie gab es schließlich jede Menge Vergangenheit. Von der Gegenwart ganz zu schweigen. Just in diesem Moment drehte ihre Mutter, seit jeher eifersüchtig auf James Blood, plötzlich durch. Erst versuchte sie Vanderbilt zu erpressen, um an Geld zu kommen, dann stellte sie eine Strafanzeige gegen James Blood mit folgendem Inhalt: Er habe ihre Töchter bestochen und sie völlig ihrer liebenden und untröstlichen Mutter entfremdet. Außerdem hätte Blood Tennessee dazu angestiftet, mit wohlhabenden verheirateten Männern anzubändeln, um diese daraufhin zu erpressen. Zusätzlich sei das Haus ständig überfüllt mit Frauenrechtlerinnen, KommunistInnen und AnhängerInnen der freien Liebe. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für ihre GegnerInnen. Die gesamte Presse war bei dem Gerichtstermin anwesend. Wobei die Klage der Mutter eher nebensächlich war. Im Wesentlichen ging es darum, dass Victoria mit 2 Ehemännern unter einem Dach lebte. Stand doch eines Tages, von ihrem Ruhm und Reichtum angelockt, ihr geschiedener Ehemann Cunningham Woodhull, abgerissen und heruntergekommen vor ihrer Tür. Und sie nahm ihn auf. Und überhaupt, die wilden Verhältnisse ihrer Familie. Tennessee, verliert am Ende die Nerven und packt aus. Jetzt, wo die Schwestern politisch aktiv sind, werden sie längst nicht mehr so wohlwollend als Kuriosität geduldet und die Presse bringt einige noch offene Rechnungen zutage. Fanden sich mühelos genügend Menschen, die von den Claflins betrogen worden waren und dies auch bereitwillig kundtaten.

Das schadete Victoria immens, wo sie gerade dabei war in der Frauenbewegung Fuß zu fassen. Hatte sie doch zuvor auf dem Frauenkongress durch ihre flammende Rede die Teilnehmerinnen davon überzeugen können, einer Abschaffung der Ehegesetze zuzustimmen. Dort lernte sie auch Theodore Tilton kennen, der Ehrenpräsident der Nationalen Frauenbewegung war;. ein Star am Reporterhimmel und fortschrittlicher Intellektueller. Sie entbrannten buchstäblich füreinander. Speziell Tilton verlor vollkommen den Kopf und war so hin- und mitgerissen von ihrem Elan, dass er sie öffentlich verteidigte und eine Biographie von ihr herausgab. Tilton ist selbstverständlich verheiratet, mit Lib, die ihrerseits ein langjähriges Verhältnis mit Henry Ward Beecher unterhält. James Blood, ganz Free Lover, nahm die Sache gelassen.
Damit war ihre Zusammenarbeit mit der Frauenbewegung gestorben. Als nächstes versuchte sie sich der Arbeiterbewegung anzuschließen. Und wie das Anschließen bei ihr so aussah, gründete sie, wie immer gemeinsam mit ihrer Bande, James Blood, Andrew und Tennessee, eine Sektion der Internationalen.
Aber auch der Internationalen, mit Marx und Engels an der Spitze, war sie nicht geheuer. Sie war entschieden nicht fügsam genug. Sie weigerte sich, die Frauenfrage als Nebenwiderspruch abzuhandeln und hatte allerhand eigene Ideen. Ganz zu schweigen von ihren Geistern, die den Materialisten ein Graus waren. Obendrein wurde sie zur Präsidentin der Spiritistischen Vereinigung New Yorks gewählt.
Rede zur freien Liebe
Nach dem durch den Prozess hervorgerufenen Desaster und Popularitätsverlust wählte sie die Flucht nach vorn und kündigte für den 20. November 1871 in der Steinway Hall ihre Rede an: „Über die Prinzipien der Sozialen Freiheit einschließlich der Frage von freier Liebe, Heirat und Prostitution.“ – Das wollten 3000 Menschen hören.
Sie versuchte nicht all die Anschuldigungen und wilden Gerüchte, die seit dem Prozess im Umlauf waren, zu entkräften, sondern ging noch einen Schritt weiter und hielt eine flammende Rede für die freie Liebe.
Die Abschaffung der Ehe, die Legalisierung von Abtreibung und Verhütungsmitteln, die Rechte von Prostituierten und ökonomische Unabhängigkeit waren für sie die notwendigen Eckpfeiler zur Befreiung der Frauen. Im Gegensatz zu den damaligen Feministinnen, deren hauptsächlicher Kampf dem Wahlrecht galt.

Für Victoria waren Sex und der Körper geheiligt, die nur durch unfreiwilligen und schlechten Sex beschmutzt werden konnten. Perfekter Sex war das „ Elixier des ewigen Lebens.“ Dies legte sie in schönster Ausführlichkeit dar.
Wir wollen Euch hier mit bis heute aktuellen Auszügen ergötzen:
„Es ist infam, zu sagen, gesellschaftliche Bedingungen, die von Frauen verlangen, sexuelle Beziehungen zu Männern einzugehen und zu unterhalten, seien eine legitime Methode, um Leben zu schützen. Frauen müssen aus ihrer Position als Dienerinnen der Leidenschaften von Männern zu deren Gleichen aufsteigen. Ich kenne Hunderte von Ehefrauen, die zugeben, dass sie nicht einen Tag länger mit ihrem Ehemann leben würden, wenn sie einen anderen Weg hätten, ihren Lebensunterhalt zu sichern, und die dennoch auf Prostituierte herabsehen, als hätten sie Lepra. Es kann Prostitution in der Ehe geben und fairen Handel in einem Bordell.“
Außerdem wusste sie damals schon, was heute langsam erforscht wird: Zugang zu Bildung, medizinischem Wissen, Verhütung, sexueller Aufklärung und die Möglichkeit selbst Geld zu verdienen, führt dazu, dass Frauen seltener abtreiben.
Auf die Frage, ob es ihr gefallen würde, nicht zu wissen, wer ihr Vater und ihre Mutter seien, sagte sie:
„Es gibt tausende von ehrenwerten Männern und Frauen, die ihre Väter nicht kennen. Und Gott weiß wie viele uneheliche Männer und Frauen heute Abend hier sind. Ja ich bin eine Anhängerin der freien Liebe. Was kann schrecklicher sein für eine zerbrechliche, sensible Frau, als gezwungen zu sein, die Gegenwart eines Ungeheuers in Männergestalt zu ertragen, der nichts anderes kennt als blinde Gier, zu der oft noch das Delirium der Trunkenheit hinzu kommt? Überall da, wo Hass oder Ekel im Spiel ist, ist Prostitution.“
Sie forderte die Männer auf, endlich dazu zu stehen, was sie schon längst heimlich praktizierten: dass sie zu Prostituierten gehen, sich Geliebte oder Mätressen halten. Denn gerade diese verlogenen Moralvorstellungen der Gesellschaft machten Abtreibungen in den Augen vieler Frauen zum einzigen Ausweg in einer verzweifelten Lage.
Mit dieser Rede war sie für jede Reformbewegung verloren. Sie flog aus der Internationalen und der Frauenbewegung wurde die Sache endgültig zu heiß. Obwohl Cady-Stanton, das Sprachrohr der radikalen Feministinnen, sie nach wie vor verteidigte. Sie richtete folgenden Appell an Victorias Widersacherinnen: „Selbst wenn alles, was sie ihr vorwerfen, wahr wäre, ist sie immer noch besser, als neun Zehntel unserer Väter, Ehemänner und Söhne. Frauen haben die Mary Wollstonecrafts, Fanny Wrights, Georges Sands und Fanny Kembles aller Jahrhunderte gesteinigt. Lasst uns diesen unwürdigen Rekord beenden und als Frauen zusammenstehen. Wenn Victoria Woodhull gekreuzigt werden muss, lasst es die Männer sein, die die Nägel einschlagen und ihr die Dornenkrone aufsetzen!“
Ihr öffentliches Bekenntnis zur freien Liebe brachte auch für Tilton das Fass zum überlaufen und er beendete das Verhältnis mit Victoria. Er war, nach dem anfänglichen Liebesrausch, auf dem harten Boden der Tatsachen gelandet. Sie verteidigend, hatte er seinen guten Ruf riskiert und ruiniert. So ruderte er zurück und versuchte seine Haut zu retten, widerrief und distanzierte sich von ihr, wann immer es ihm geboten schien.
Parteigründung
Doch noch gab sie nicht auf und es ging weiter im Galopp. Am 9 Mai 1872 rief sie zum Gründungstreffen der „ Equal Rights Party“ auf. Das hatte sie wie immer mit ihren drei treuen GefährtInnen ausgeheckt. Es kamen 600 Delegierte. Es war ihnen gelungen, Teile der Anti- Sklaverei Bewegung, der Arbeiterbewegung, des Spiritismus und der Frauenbewegung zu mobilisieren. Die Zeitungen kommentierten das Treffen folgendermaßen: “Es war wahrscheinlich die heterogenste Zusammensetzung, die sich jemals in einer Stadt versammelt hat. Da waren Frauen und Männer und solche, die, soweit man nach der Kleidung und Erscheinung gehen kann, zu jedem Geschlecht gehören könnten.“ Letzteres lässt auch auf die Anwesenheit von Lesben schließen.
Sie wurde als Präsidentschaftskandidatin nominiert und als Vize der bekannte schwarze Bürgerrechtler Frederick Douglass benannt.

Das Programm dieser Partei beinhaltete Forderungen wie die Abschaffung des Erbrechts und der Todesstrafe, die Neustrukturierung der korrupten öffentlichen Verwaltung, die Abschaffung von Wirtschaftsmonopolen, die Beschneidung der ausufernden Gewinne der Banken und der ungerechten Verteilung der materiellen Güter sollte ein Ende zu bereitet werden. Victoria war davon überzeugt, dass alle Menschen ein gemeinsames Interesse hätten: nämlich in einer besseren Gesellschaft zu leben. Schließlich sei es nicht Schuld der Reichen, wenn sie alle Möglichkeiten ausnutzten, um ihren persönlichen Wohlstand zu vermehren, das sei ja nur menschlich. Der richtige Weg wäre es, die Gesetze abzuschaffen, die ihnen dies auf legalem Weg erlaubten.
Nun waren sie keineswegs so naiv, sich tatsächliche Chancen bei der Wahl auszurechnen. Es ging vielmehr darum, eine Frau oder einen Schwarzen als Kandidaten denkbar erscheinen zu lassen und ihrer Unzufriedenheit mit den dominierenden Parteien Ausdruck zu verleihen.
Der Tilton Beecher Skandal
Sie hasste die Verlogenheit der Gesellschaft, die Moral predigte, der es im Grunde genommen aber nur um die Aufrechterhaltung des Scheins ging. Ihr Blick hinter die Kulissen war umfassend. Er reichte von den Machenschaften in der Finanzbranche über die Korruption in der Verwaltung bis zu den diversen Liebesaffären der Herren und Damen Moralapostel. Sie selbst war von einer anderen Art der Moralität geprägt, es ging ihr um Wahrhaftigkeit.

Als es ihr schließlich zu bunt wurde mit der Schmutzwerferei aus dieser Ecke, setzte sie den Hebel bei Beecher an und forderte ihn auf, sich zu seinem Lebenswandel und zur freien Liebe zu bekennen. Mit zunehmenden Nachdruck. Sozusagen bis zur Erpressung. Danach ging es rund. Denn Victoria ist schon lange genug in New York, um auch den Klatsch über ihre entschiedensten GegnerInnen zu kennen. Da gab es die konservativ reformerischen Beechers. Henry Ward Beecher, ein Hallodri erster Güte und beliebtester Prediger in Plymouth Church in Brooklyn. Dem nichts anzuhaben war, da er für die riesigen Summen an Kirchenbeiträgen sorgte. So das sein Förderer Henry Bowen, mächtiger Eigentümer des Independent, einer religiös politischen Zeitung, gute Mine zum bösen Spiel machte, als seine Frau ihn mit Beecher betrog. Ferner unterhielt Beecher eine langjährige Affäre mit Lib Tilton, der Gattin von Theodore Tilton, eines ehemaligen Redakteurs des Independent, der wegen seiner radikalen Ansichten hinausgeflogen war und der unlängst eine heiße Affäre mit Victoria gehabt hatte. Aber das war nur die Spitze des Eisberges. Henry hatte 3 wohlanständige Schwestern: Catarina, die Autorin von zahlreichen Haushaltsratgebern, Harriet Beecher-Stowe, die den bekannten Anti-Sklaverei Roman „Onkel Toms Hütte“ geschrieben hatte und Isabella, die sich allerdings auf die Seite von Victoria schlug.
Von dieser ganzen Bigotterie mal abgesehen, war es auch noch ein korrupter und verfilzter Haufen, der sich keineswegs scheute, Recht zu beugen und seinen Einfluss auf definitiv rabiate Art und Weise geltend zu machen. Die Beechers drohten beispielsweise ihrer Schwester Isabella mit der Entmündigung und Einweisung in eine Irrenanstalt, sollte sie ihre Absicht, die Affären ihres Bruders öffentlich zu bestätigen, wahr machen. Eine beliebte Methode, um aufmüpfiger Frauen Herr zu werden.
Als all ihren Erpressungsversuchen zum trotz Beecher keine Zugeständnisse machte, outete sie ihn. Vorerst während einer öffentlichen Rede, und als das Medienecho darauf zu gering war, brachte sie noch mal die Weekly heraus und verschickte und verkauft sie tausendfach. Doch sie hatte die Macht der Beechers unterschätzt. Diese schalten einen Anwalt ein, der eine Stelle in einem Artikel der Weekly findet, die er als obszön anzeigt. Darin wurde im Zusammenhang mit einem Bericht über eine Vergewaltigung nämlich die Bibel zitiert: “Die Herren brüsteten sich damit „die rote Trophäe ihrer Jungfräulichkeit“ am Finger zu tragen (5. Buch Mose, Kapitel 22, Vers 15)“. Es gelang dem Anwalt, Victoria und Tennessee deswegen verhaften zu lassen, die Weekly zu konfiszieren und die Druckerei mit allem Drum und Dran beschlagnahmen zu lassen. Es sollte so aussehen, als hätte die ganze Sache nichts mit den Enthüllungen über Beecher zu tun.
Noch mehr Polytechnisches
Letztendlich konnte sie Beecher nichts anhaben. Victoria aber wurde durch den Prozess, obwohl sie nach mehreren Verhaftungen freigesprochen wurde, finanziell und gesellschaftlich ruiniert. Kein Mensch in New York wagte es mehr, ihr eine Halle für ihre Reden bereit zu stellen und ihre Vermieter setzten sie kurzerhand auf die Straße. Wogegen heute noch eine Statue von Henry Ward Beecher in Brooklyn zu besichtigen ist. So nahm sie ihr altes Leben wieder auf und zog umher, nur diesmal nicht heilend, sondern Reden haltend. Denn sie blieb eine interessante Person, trotz oder auch wegen des ruinierten Rufes. Und sie hatte nach wie vor etwas zu sagen, ob zu Spiritualität, Frauengesundheit, der Heilkraft und Heiligkeit von gutem Sex oder über Wirtschaftspolitik.
Nachdem ihre Liebesbeziehung zu Tilton beendet war, lief ihr 1873 der damals 19-jährige Benjamin Tucker über den Weg. Die 15 Jahre ältere Victoria verführt den Jungen, wie gewohnt unter den wohlwollenden Blicken von James Blood. Als Benjamin auf Europatour gehen sollte, wie es für die Söhne der besseren Gesellschaft üblich war, begleitete sie ihn. Was natürlich bedeutete, dass Teile des restlichen Wilden Haufens auch mitkamen: Tennessee, James Blood, die Mutter und ihre Tochter Zulu Maude. Einmal soll sie Benjamin sogar aufgefordert haben, doch auch mit ihrer Schwester zu schlafen, was der Junge leicht überfordert ablehnte. Victoria sah das so: Wer ihre Schwester nicht liebte, konnte sie nicht lieben. Es darf natürlich phantasiert werden, was sie sonst noch so trieben. Vor allem Tennessee schien auch eine besonders wilde Hummel gewesen zu sein. Auch wenn wir uns hier nicht in Vermutungen ergehen, sondern Euch nur mit dem Tratsch aus reinen Quellen füttern. Doch auch das Vergnügen mit Tucker währte nicht länger als ein Jahr. Er blieb in Europa, während die anderen wieder nach Amerika zurückkehrten. Später sollte Tucker ein bekannter Anarchist mit freizügigen Ansichten werden.
Flucht in die Halbanständigkeit
Durch einen glücklichen Zufall kam Victoria 1877 noch mal zu Geld. Sie ließ sich aus uns unbekannten Gründen von James Blood scheiden und wanderte mit Tennessee, ihren Kindern, Eltern und zwei Nichten nach England aus. Dort angelten sich die Schwestern schnell reiche Männer. Tennessee blieb ihrem Flittchenwesen treu, als Geliebte. Wohingegen Victoria ihre Vergangenheit verleugnete und nie etwas mit der freien Liebe zu tun gehabt haben wollte, um endlich Respektabilität zu erlangen. So was soll ja auch heute schon mal vorkommen. Wobei es durchaus verständlich ist, dass sich eine zur Ruhe setzten möchte, wenn sie im 19. Jahrhundert als Schlampe der Nation fungierte. Ganz ruhig wurde sie trotzdem nicht, aber das Ende der Geschichte müsst ihr selber nachlesen, das würde hier zu weit führen….

Wer es noch genauer wissen will: Hier ist das Buch. Darin auch noch mehr zu den politischen Ideen Victoria Woodhulls.
Ein Gedanke zu „Von der liederlichen Prostituierten zur anständigen Schlampe“